Von Menschen und Tieren
Corinna Schnitts Arbeit mit dem visuellen und akustischem Bild
Von Barbara Engelbach
Aus dem Off ist eine männliche Stimme auf einem Anrufbeantworter zu hören. Sie wendet sich an die Künstlerin als möglicher Kundin einer Versicherungsgesellschaft. Der Vertreter spricht ins Leere. Seine Unsicherheit überspielt er mit Füllwörtern und atemlos aneinandergereihten Sätzen, die sein eigentliches Anliegen deutlich machen. Denn neben seiner Empfehlung, sich gegen Erwerbsunfähigkeit abzusichern, spricht aus dem Redefluss die Sorge, den vergessenen Kugelschreiber nicht zurückzuerhalten. Da die Gesprächspartnerin abwesend ist und seine Stimme nur von einer Maschine aufgezeichnet wird, hat sein Unbewusstes alle Gelegenheit, sich in das Gesprochene zu stehlen. Der Klang seiner Stimme, der in Schleifen verlaufende Gedankengang, die Repetition der Füllwörter – all das formt das Vorstellungsbild eines unsicheren, auf Kleinigkeiten fixierten Mannes. Für dieses akustische Bild findet Corinna Schnitt in ihrer Arbeit „Das schlafende Mädchen“ von 2001 eine visuelle Entsprechung: Die Kamera zeigt in der Totalen eine weite flache Landschaft mit einer ausgedehnten und menschenleeren Neubausiedlung. In einem langsamen Zoom rücken die Häuser immer näher und zeigen dem überraschten Betrachter, dass sie – bis auf wenige architektonische Varianten und Positionierungen zueinander – alle identisch sind. Sie sind offensichtlich zeitgleich entstanden, so dass darüber hinaus das beklemmende Bild einer geschichtslosen, geografisch nicht genau zu verortenden Siedlung im Landhausstil entsteht. Kamerafahrt und Zoom münden in einem geöffneten Fenster eines der Häuser auf einer Abbildung von Jan Vermeers Gemälde „Das schlafende Mädchen“, das zum Zerrspiegel der ersehnten, nicht einzuholenden Intimität dieser anonymen Neubausiedlung wird. Der rigide Einsatz der Kamera führt also eine Fixierung vor, die sich in dem mäandernden Sprechakt auf andere Weise ebenfalls Bahn bricht.
Auf der Folie ruhiger, nüchterner Einstellungen, die Corinna Schnitt grundsätzlich in ihren Film- und Videoarbeiten bevorzugt – es dominieren neben Zooms langsame Schwenks und die statische Kamera – erfahren die darüber gesprochenen Texte ein Eigenleben, die ihre suggestive Kraft nicht zuletzt der Authentizität gesprochener Alltagssprache verdanken. Dabei können die Monologe aufwändig als authentische inszeniert sein. Dies gilt zum Beispiel für den Film „Zwischen vier und sechs“ von 1997/98, der eine erwachsene Frau mit ihren Eltern beim Putzen von Straßenschildern in einer Wohnsiedlung zeigt. Die weibliche Stimme berichtet aus dem Off von ihrer behüteten Kindheit und vom außergewöhnlichen Hobby, das die Familie heute verbindet. Corinna Schnitt hat die Schilderungen frei gesprochen, dann aber Passagen solange wiederholt, bis auch die nicht sprachlichen Botschaften der Stimme getroffen waren, die Catrin Backhaus treffend beschreibt: „ein fast unmerkliches Luftholen, eine kleine Verschleifung, mehr praktische Resolutheit bei Putztipps, etwas erinnernde Rührung.“1 Über das Erzählte hinaus gewinnen diese vermeintlich unbeabsichtigten, zufälligen Botschaften der Stimme, ihr Volumen und Klang, der Sprechrhythmus mit den Pausen, dem Zögern und Räuspern oder Luftholen, in Schnitts Arbeiten ein besonderes Gewicht. Denn diese Materialität der verkörperten Sprache2 bedeutet eine Instantiierung nicht nur des Gesagten, sondern auch Gesehenen. Die Filmbilder werden durch sie affiziert und dadurch gleichsam zu ihrem Beleg. Gerade weil Corinna Schnitt die Möglichkeiten des Filmischen so reduziert, ermöglicht sie der akustischen Körperspur, der Stimme und dem von ihr produzierten Überschuss an Bedeutung wirksam zu werden.
Corinna Schnitts Interesse an dieser besonderen Verknüpfung von Sprache und Körperlichkeit vermittelt auch ihre Arbeit „Sein Gesicht beschreiben“ von 1996/2001.130 Personen haben auf ihre Bitte hin handschriftlich mit einem kurzen Text, der eine DinA4-Seite nicht überschreiten sollte, ihr eigenes Gesicht beschrieben. Die Aufgabe ist von den Einzelnen sehr unterschiedlich gelöst worden. Die Beschreibungen reichen von regelrechten Kartografien der eigenen Physiognomie bis zu Berichten von persönlichen Erinnerungen oder Reflexionen über die gestellte Aufgabe. Die verschiedenen Sprachstile und Schreibfehler lassen das Alter der Personen rekonstruieren, und auch wenn viele mit einem stereotypen „Mein Gesicht ist oval“ beginnen, so sind es letztlich die unterschiedlichen Handschriften, die eindrucksvoll die jeweiligen Persönlichkeiten vermitteln. Sie verstärken das Gesagte, unterminieren oder kommentieren es – wie zum Beispiel eine kindliche Schrift, die mit den Zeilen immer freier wird und entsprechend mit der jubilierenden Feststellung endet: „… aber das schönste finde ich sind meine Haare die bis zum po gehen ich flege sie sehr.“. So wird jede Seite zu einem Textbild, in dem die Sprache mit der Handschrift einen Dialog beginnt und eine eigene Geschichte initiieren kann.
Die Arbeit „Sein Gesicht beschreiben“ macht auch deutlich, dass es Corinna Schnitt grundsätzlich um ein sehr subtiles Zusammenspiel von Sprache, Bild und ihrer Verknüpfung über die Körperlichkeit der Stimme oder der Handschrift geht. Sie können so unmerklich gegeneinander verschoben sein, dass erst mit der wachsenden Irritation die Aufmerksamkeit auf den Widerspruch gelenkt wird. Dies ist zum Beispiel bei „Living a Beautiful Life“ von 2003 der Fall, einem Film, in dem abwechselnd eine Frau und ein Mann in reichem Ambiente ihr Leben beschreiben. Die statische Kamera zeigt sie vor dem Swimming Pool, im Wohnzimmer am Kamin, Blumen auf dem Eßzimmertisch arrangierend oder in einem luxuriösen, großen Ankleidezimmer. Sie sprechen von beruflicher Karriere, von Reichtum, Gesundheit, erfüllter Liebe und von „most beautiful children, who I hope never grow up.“ Die Personen tragen die Statements mit einer Überzeugung und gleichzeitig einer Beiläufigkeit vor, dass mit der Zeit ihr Selbstbewusstsein als Selbstgefälligkeit, ihr Glück als Naivität wahrgenommen wird. Erst mit dem Wissen, dass Corinna Schnitt Texte von amerikanischen Kindern und Jugendlichen auswählte, die beschreiben sollten, was für sie ein schönes Leben ausmacht, ist erkennbar, dass es sich um kindliche Hoffnungen, Wünsche und Sehnsüchte handelt, die wenn sie von einem Erwachsenen verkörpert sind, sich in provozierende Arroganz verwandeln.
Als Vorspann verwendete Schnitt ein Found Footage aus dem Kinderfilm „Der Katzenprinz“, 1978 produziert von der DEFA, in dem nackte Kleinkinder in einer paradiesischen Landschaft mit Jungtieren und großen weißen Bällen spielen, die wie riesige Eier so in der Natur verteilt sind, als würden alle Lebewesen ihnen entspringen. Aus dem Off ist Vogelgezwitscher zu hören, das zur ersten Szene des eigentlichen Films „Living a Beautiful Life“ überleitet. Die Inszenierung von kindlicher Unschuld und Ursprünglichkeit im Vorspann wird in den folgenden Filmszenen durch den Widerspruch gewendet, der sich aus den unbefangenen Wünschen ergibt, die von Erwachsenen ausgesprochen werden. Im Grunde arbeitet Schnitt auch hier mit Monologen aus dem Off, nur dass sie den Sprechort der Kinder und Jugendlichen mit Szenerien maskiert, die der Werbung entsprungen sein könnten, und die Texte in einer Weise verkörpern lässt, dass die kindlichen Projektionen auf die Zukunft als Gegenwart vorgestellt werden. Indem Schnitt das visuelle und das akustische Bild als zwei getrennte, autonome Sphären behandelt, kann sie beide wieder so miteinander verschränken, dass der Betrachter die subtilen und irritierenden Botschaften, die sich daraus ergeben, zu lesen beginnt.3 Damit verschiebt sie die Trennung zwischen Visuellem und Akustischem in das Visuelle und in das Akustische selbst, so dass das dialektische Verhältnis von Bild und Sprache in vielfältige Verknüpfungen beider Sphären aufgelöst wird.
Corinna Schnitts frühe Filme, Videos und Fotografien vermitteln den Eindruck, als leite sie ihre Themen wie Familienleben, Vorstellungen von Glück, Alltagsgeschichten im Umgang mit Vermietern oder Versicherungsagenten von vermeintlich privaten, aber gesellschaftlich fundierten Ritualen und Interaktionen ab. Die jüngsten Arbeiten machen aber darüber hinaus deutlich, dass sich für die Künstlerin aus dieser Beschäftigung grundsätzliche Fragen nach dem Kreatürlichen und Menschlichen, nach Natur und Kultur und nach dem, was sich gesellschaftlicher Kontrolle entzieht, ableiten. In „Once Upon A Time“ von 2006 zeigt sie eine buchstäblich menschenleere Wohnung, denn die Kamera dreht sich langsam auf Schienen gestellt im Kreis. Das ganze Video besteht aus einer Einstellung. Lassen sich am Anfang eine Katze, dann ein Hund häuslich nieder, so bevölkern mit der Zeit immer mehr Tiere das Wohnzimmer – Vögel, Ente, Ziegen, Pony – und hinterlassen an den Wänden, auf dem Boden und an der gesamten Einrichtung ihre Spuren, so dass der Raum mit der Zeit komplett derangiert wird. Die zufälligen, weil nicht planbaren Handlungen der Tiere zeichnet die Kamera unablässig auf. Die geregelte Mechanik der Apparatur kontrastiert mit den Handlungen des Kreatürlichen im Video – dieser„Plot“ ist so überraschend, dass die Faszination auch beim mehrmaligen Ansehen des Videos anhält. Die Tierstimmen und alle anderen Geräusche bilden ein akustisches Kontinuum, das einen Eindruck vom animalischen Eigenleben in der gesamten Wohnung vermittelt, auch wenn die Kamera nur einen Ausschnitt zeigt. Aber das akustische Kontinuum dient nicht der Einheit des Filmischen, sondern macht vielmehr die lächerliche Beschränktheit des Aufzeichnungsgerätes sichtbar, das zugleich dem Standort des Zuschauers entspricht. Bricht sich in den frühen Arbeiten das Unbeabsichtigte, Zufällige in den Stimmen aus dem Off die Bahn, so ist das, was sich dem kontrollierenden Bewusstsein entzieht in „Once Upon A Time“ auf die Tierwelt projiziert. In einer solchen Dichotomie wird aber der Mensch immer nur ein aus dem Paradies vertriebener sein, der die märchenhafte Unschuld des Kreatürlichen bestaunt.
1 Catrin Backhaus: „Zum Weitermachen mehr als reichlich“, in: Corinna Schnitt: Freizeit, Frankfurt a.M. 2001, unpaginiert.
2 Vgl. Sybille Krämer: „Sprache – Stimme- Schrift: Sieben Gedanken zur Performativität als Medialität“, in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M., 2002, S. 337 ff.
3 Zur Geschichte des Verhältnisses von Filmbild und Ton vgl. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, Kino2, Frankfurt a.M. 1997, S. 300-334.