Corinna Schnitt erzählt absurde filmische Kurzgeschichten in strenger Form
Von Andrea Dittgen
Der Versicherungsvertreter insistiert: Frau Schnitt soll ihm doch bitte seinen Kugelschreiber zurückschicken, den er vergessen hat. Dann ruft er noch einmal an und will sich mit ihr treffen, und wieder geht es ihm vor allem um den Kugelschreiber. Soweit die Off-Stimme auf dem Anrufbeantworter. Die Bilder dazu zeigen etwas ganz anderes: Ein imposantes Segelboot zieht seine Bahn. Je weiter die Kamera zurückfährt, desto kleiner wird es, bis man erkennt, dass es nur ein Modell ist. Die Kamera fährt an ihm vorbei und ohne Bruch langsam an eine menschenleere Siedlung heran, die ebenfalls wie im Spielzeugland aussieht: Hunderte sauberer Häuschen mit roten Dächern, die sich nur minimal unterschieden. Bis der Blick durch die offene Verandatür ins Innere eines Hauses hineingleitet – auf ein Gemälde: Jan Vermeers „Schlafendes Mädchen“, ein Genrebild (1657) mit einer jungen Frau, den Kopf auf einen Arm stützend, mit geschlossenen Augen am Küchentisch sitzend. In neun Minuten erzählt Corinna Schnitt in ihrem Film „Das schlafende Mädchen“ gleich zwei ganz normal verrückte Dinge aus dem Alltag – und bekam dafür den Preis der deutschen Filmkritik 2002 für den besten Experimentalfilm.
Humorvoll sind sie alle, die Kurzfilme, die Corinna Schnitt seit Mitte der 90er Jahre dreht – und damit auf Schönste das Vorurteil widerlegt, dass Experimentalfilme spröde und langweilig sind. Entrückte Kunst oder geheimnisvolle Poetik sucht man vergebens in den Arbeiten der 1964 in Duisburg geborenen Autorin, Fotografin und Regisseurin. Dazu sind ihre Filme zu sehr im Alltag verwurzelt. „Reale Bildwelten finde ich einfach spannender“, meint Corinna Schnitt. Zwar hat sie an zwei Kunsthochschulen studiert (1989-1993 an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, 1993-1996 an der Kunstakademie Düsseldorf), aber davor hatte sie eine dreijährige Ausbildung als Holzschnitzerin abgeschlossen, um ganz handfest zu lernen, wie man mit Material umgeht. In Offenbach interessierte sie vor allem das Filmen mit 16-mm: „Man lernt da alles von der Pike auf“, meint sie, auch das Arbeiten mit Zeitraffer, Plansequenzen und den anderen Techniken, die ihre Werke erst zu Experimentalfilmen machen
Was reizt sie so am Experimentalfilm? „Die Freiheit, die man dabei hat“, sagt sie. Auch sind nicht alle Arbeiten Experimentalfilme im strengen Sinn. „Zwischen vier und sechs“ ist eher ein klassisch inszenierter narrativer Film. Vater, Mutter und Tochter ziehen am Sonntag, dem einzigen Familientag, nach dem Kaffeetrinken los, um zwei Stunden lang die Verkehrsschilder in den umliegenden Straßen zu putzen – ganz professionell mit Leiter, Wassereimer, Stadt- und Putzplan, wie die Offstimme verrät. Doch auch hinter dieser humorvolle Geschichten steckt eine Tragödie: über die Einsamkeit in der Großstadt, übers Alleinsein und den Stellenwert der Familie
Zu den Bildern kam schon früh die Arbeiten mit Texten. Auch wenn die Sätze aus dem Off authentisch klingen, sie sind pure Erfindung. „Also, mein letzter Freund, der sah richtig gut aus, nur war er starker Raucher, den konnte ich nur nackt und geduscht in der Nähe ertragen“, heißt es in „Raus aus seinem Kleidern“. Während Corinna Schnitt aus dem Off von Kleidung, Wohnung und Männern plaudert, als würde sie mit der engsten Freundin scherzen, sieht man eine Frau (Corinna Schnitt) auf dem Balkon eines Hochhauses mechanisch acht Minuten lang eine einzige rotgeblümte Bluse ausschütteln. Ganz langsam bewegt sich die Kamera immer weiter weg, gut 500 Meter, bis das Hochhaus in weiter Ferne liegt und der Blick durch ein Fenster in eine andere Wohnung fällt, wo wieder Corinna Schnitt lachend und erzählend auf dem Sofa sitzt.
„Raus aus seinem Kleidern“ erinnert in seinem formalen Spiel durchaus an klassische Experimentalfilmer wie Michael Snow. Aber der teenagertypische Plauderton und die abstruse Verbindung von Wäschewaschen und Männern nehmen dem Film seine Strenge, machen daraus eine kleine absurde Alltagskomödie. „Die Texte entstehen übers Sprechen“, erläutert Corinna Schnitt, „ich spreche etwas auf Band, höre es ab und spreche es dann neu, bis es passt“. Dass der Sprech-Rhythmus schneller ist als der imaginäre Rhythmus, in dem sich die Kamera bewegt, ist ein weiteres Element, das Schnitts Filme so raffiniert macht.
Immer wieder führt Schnitt auf subtile ironische Art vor, dass niemand perfekt ist: Da geht es nicht nur um den vergessenen Kugelschreiber oder einen verlorenen WC-Schlüssel (Off-Stimme des Vermieters zu einer das Treppenhaus putzenden Frau in „Schönen guten Tag), oder um die Trostlosigkeit von Siedlungen, sondern auch darum, dass wir uns nicht mehr die Zeit nehmen, unsere Umgebung zu beobachten: Zum Beispiel einen Springbrunnen mit großem Teich an einer dicht befahrenen Autostraße (wie am Aachener Europaplatz), gefilmt mit starrer Kamera. Überrascht wischt sich der Zuschauer die Augen, als plötzlich eine Schwimmerin aus dem Wasser steigt, dabei hätte er ihre weiße Badekappe doch schon vorher entdecken müssen. Als sie wieder ins Wasser steigt, ist der Blick geschärft und man wartet, ob sie wiederkommt – daraus bezieht „Europaplatz, Aachen“ aus der eigentlich als Loop konzipierten fünfteiligen Serie „Freizeit“ seinen Reiz.
Corinna Schnitts neuer Film „Schloss Solitude“ (2002) – entstanden während eines Stipendiums auf dem gleichnamigen Schloss – fällt jedoch deutlich aus dem Rahmen dieser Spiele in und mit dem Alltag: Zwar erlebt man wieder eine lange Fahrt rückwärts von einer Sängerin im Barockkostüm mit hoher Perücke, die einen Spiegel in der Hand haltend am Balkon steht und singt „Ich bin was Besonderes“, irgendwann landet die Kamera vor dem Haus, wo auf der Freitreppe ein Polizeichor in Uniform postiert ist und singend entgegnet: „Wir lieben dich“. Aber erstmals gibt es so etwas wie ein Zwiegespräch, eine eigens für den Film komponierte Musik, auch eine Art Einleitung mit einem kleinen Jungen, der durch Schloss geht – eine durch und durch realitätsferne Situation.
„Ich verstehe mich als Künstlerin“, sagt Corinna Schnitt, die heute in Köln lebt. Pro Jahr entsteht meistens ein Film. Sie schreibt das Konzept und führt Regie, legt im Vorfeld den Kameraverlauf fest und entwickelt die Textebene, den Rest macht ein Team, finanziert werden die vorwiegend auf 16-mm gedrehten Filme durch Stipendien, Verkäufe ans Fernsehen und Fördergelder. Den Lebensunterhalt verdient sich Corinna Schnitt jedoch durch ihre (Teilzeit-) Arbeit mit geistig behinderten Erwachsenen, einen Job, den sie schon seit ihrer Studienzeit hat und der ihr auch Spaß macht. Sie freut sich über ihre Preise (3-sat-Förderpreis Oberhausen 2000, HAP-Grieshaber-Preis 2001, Medienkunstpreis Wiesbaden 2002) und die mehrmonatigen Stipendien. So fährt sie im März für drei Monate mit einem Stipendium nach Los Angeles. Aber ihre Filme will sie nicht für jeden verfügbar machen, da ist sie wirklich ganz Künstlerin. Sie verkauft sie eigentlich nur auf DVD an Museen und Sammlungen. Wer ihre Filme sehen will – oder auch ihre Fotoserien (etwa „Familienfotos“, wo sie sich stets lachend zu fremden Familien dazugesellt, als gehöre sie dazu), ihre Dia-Installationen (wie „Daheim“ mit 162 Ansichten eines Küchentischs, an dem sich Kinder und Erwachsene treffen) oder ihre Video-Installation – der muss zu Kunstausstellungen fahren, zu Filmfestivals oder zu einem der Filmabende, die sie in Programmkinos oder kommunalen Kinos veranstaltet. Dort zeigt sie neben den eigenen Filmen gerne noch Arbeiten anderer deutscher Experimentalfilmer zum Thema Lebensentwürfe und Beziehungsformen, um noch mehr Denkanstöße zu geben.
Andrea Dittgen